Sucht war einer meiner längsten Begleiter.
Ich spreche selten von meinen persönlichen Archetypen - aber diesen Monat mache ich eine Ausnahme. Die "Süchtige" in mir hat ein paar Dinge zu erzählen.
Und sie ist bei weitem keine "negative" Anlage, wie man vermuten könnte.
Aber zunächst spielte sich alles im Dunkeln ab. In pop-psychologischer Sprache könnte man sagen, dass ich meinen Schatten auslebte. Dann dämmerte mir langsam, dass ich ein Problem hatte.
Ich schämte mich. Ich war ratlos. Ich verharmloste es. Ich quälte mich, jahrelang.
Ich habe viel gehört und gelesen.
Ich habe gelernt, welche Prozesse in süchtigen Körpern & Hirnen ablaufen. Dann habe ich es wieder vergessen.
Ich habe gelernt, welche inneren Konstellationen eine Sucht begünstigen. Dann habe ich es wieder vergessen.
Die große Wende kam, als ich begriff, dass ich nicht allein war, sondern eine archetypische Charakterschule durchlief, wie schon tausende Menschen zuvor. Ich erforschte die Lektionen, die allen Mythen, Filmen und Geschichten über Süchtige gemeinsam sind. Sucht ist tatsächlich ein universelles MUSTER:
Immer geht es um die Entdeckung persönlicher Freiheit, Integrität und Willenskraft.
Das gab mir eine völlig neue Perspektive. Ich sah mich nicht mehr als Opfer einer übermenschlich starken "Sucht". Ich kämpfte nicht länger und entdeckte gerade dadurch eine neue Stärke und Konsequenz. Ich konnte auch in meiner Geschichte den archetypischen roten Faden erkennen, der mich - wie auch schon Tausende Mensche zuvor - durch scheinbar endlose Dunkelheit ins Licht bringen würde. Und er tat es tatsächlich.
Einen persönlichen Archetypen kann ich nicht abschütteln, nicht loswerden. Wozu auch? Mittlerweile ist die "Süchtige" in mir eine unbeirrbare Kraft, die mich wachrüttelt, wenn ich dabei bin, mich abhängig zu machen, meinen Willen abzugeben oder meine Integrität zu verletzen.
Ich habe einmal gehört, dass ein Mensch in seinem Leben mit etwa drei Süchten Bekanntschaft macht. Das können klassische Substanz-Süchte und Suchtverhalten sein. Oder kreativere Abhängigkeiten, wie die Sucht nach seichter Literatur, Facebook oder Nörgelei.
Ich kann dem Gedanken mittlerweile Einiges abgewinnen. Sucht geht uns alle an. Auf archetypischer Ebene sind die Lektionen der Sucht für alle Menschen irgendwann ein Thema. Die Geschichte ist
uralt - das Erleben ist individuell.
5 persönliche Lektionen
Mit Betonung auf: PERSÖNLICH. Wir alle gehen unseren eigenen Weg (und holen uns Hilfe).
1) Sucht ist unvernünftig. Vergiss vernünftige Maßnahmen.
Es wäre ja so logisch: ein vernünftiger Blick auf die Tatsachen und *schwupps!*, wäre die Süchtige durch die Kraft des Verstandes vom Laster befreit.
Aber das Schmerzvollste an der Sucht ist nicht die Handlung an sich. Es ist der Zwang, etwas zu tun, das jeder Vernunft entbehrt, uns und anderen schadet und TROTZ dieses Wissens nicht damit
aufhören zu können. Das sind die Qualen der Sucht. "Wo ist mein Wille? Was bin ich für ein Mensch, dass ich nicht einfach lassen kann, was mir nicht gut tut?"
Es gehört zu diesem archteypischen Muster, mit der Unlogik des eigenen Verhaltens umgehen zu lernen. Vernunft half mir vielleicht kurzfristig, mich im Zaum zu halten (beim Gedanken an Kontostand, Gesundheit, Mitmenschen, Lebensqualität). Aber Vernunft brachte mir nie das ersehnte Gefühl, wirklich frei zu sein.
Sucht ist ein Muster, das keiner Verstandeslogik, sondern einem archetypischen Lehrplan folgt. Die Lektionen passen mir nicht unbedingt in den Kram - aber sie verfeinern den Charakter. Darum helfen vernünftige Lösungen, die auf Verstehen und Ersatz begründet sind, auch selten langfristig. Sie berücksichtigen nicht den unlogischen, mythischen Aspekt der Sucht. Der Weg aus der Sucht ist genau wie der Weg hinein kein geradliniger Prozess, sondern ein verschlungener Pfad.
Im Rückblick ergibt jeder Schritt des Weges Sinn. Ich sammelte über lange Zeit all die kleinen Scherben meiner Selbstachtung und Integrität. Über Jahre hinweg wusste ich nicht, ob es mir gelingen würde, frei zu sein. Ich hatte immer nur ein kleines Puzzlestück in Händen und bastelte mich zusammen - bis ich das ganze Bild sehen konnte. Und das Abstreifen der Sucht möglich war.
Eine persönliche Verbindung zum Archetyp des Süchtigen ist ein lebenslanger Lehrer. Er zeigt uns die Bedeutung persönlicher Freiheit, wahren Willens und innerer Fülle. Solche Schätze werden aus durchlebter Erfahrung geborgen.
Ersatzmaßnahmen sind manchmal für einen Absprung nötig - aber nicht die Lösung. Ich schreibe das mit Respekt für die Errungenschaften moderner Medizin, aber auch mit der Erfahrung einer verwandelten Süchtigen: Ersatzmittel befriedigen nicht das Bedürfnis nach echter, innerer Verwandlung und "Erlösung", das zu diesem Archetypen gehört.
Ersatz: eine logische Maßnahme. Aber keine hilfreiche.
2) Das ist die Wahrheit: Du willst nicht frei sein.
Als ich alle Hintergründe beleuchtet hatte, musste ich feststellen, dass sie letztendlich nur Nebenrollen spielten. Es war nicht meine Kindheit. Es waren nicht meine Glaubensmuster und nicht meine Gene. Nicht meine Ängste, nicht meine Traumata.
Es war so einfach, mich in pop-psychologischen, pseudo-spirituellen oder gar "wissenschaftlichen" Erklärungen zu verlieren. Mich zu verstecken hinter Erklärungen, warum ich zu unvorbereitet, zu schwach, zu schlecht veranlagt, zu traumatisiert war.
Es wurde einfach, als ich brutal ehrlich wurde:
„Ich weiß genau, was zu tun ist. Ich muss aufhören. Und die ehrliche Antwort ist nicht, dass ich nicht KANN, sondern dass ich nicht WILL.“
Dazu konnte ich stehen. Ich war nicht zu schwach. Ich war unwillig.
„Hast du noch nicht genug davon?", fragte ich mich. Genug der Selbstvorwürfe, genug der Sorgen, genug der Scham? Genug der Qual, an der Klippe zu stehen und zu warten?
Erst schonungslose Ehrlichkeit mir selbst gegenüber brachte die Wende. Diese Ehrlichkeit kochte mich weich, geduldig, über mehrere Monate hinweg. Etwas Neues regte sich in mir: Würde.
Das Verlangen fiel nicht plötzlich von mir ab. Die Wende war, dass ich ganz einfach die Schnauze voll hatte, mich selbst so klein zu sehen.
3) Rückfälle. Wenn es um „nie wieder“ geht, musst Du lernen, im Augenblick zu leben
Auch das gehört zum archetypischen Muster der Sucht: rückfällig zu werden.
Nach meinem ersten Rückfall dachte ich noch, dass ein Mal kein Mal wäre.
Nach dem zweiten Rückfall musste ich mir eingestehen, dass ich mich nicht austricksen konnte.
Dieses „eine Mal“ durfte nicht wieder geschehen.
Jetzt musste ich mich mit einem erschreckenden Konzept anfreunden: NIE WIEDER.
Aufhören selbst? Keine so schlimme Sache. Entsetzlich hingegen war die Vorstellung, ein ganzes Leben in permanentem, unerfülltem Verlangen führen zu müssen.
In einer Kultur, die nicht lehrt, auf den Wellen des Begehrens zu reiten, ist das eine grausame Strafe. Ausübende Süchtige fürchten diesen Hunger so sehr, dass sie weiterhin sozusagen Scherben essen, nur um ihm zu entgehen.
Geheilte Süchtige haben die Lektion ihres Archetypen gelernt: nicht das Begehren wegzuwünschen, sondern sich seinem Feuer auszusetzen und in jede Faser hinein davon erfüllen zu lassen, um am anderen Ende unversehrt herauszukommen.
Wohl wissend:
"Intensives Verlangen, intensive Leere, ... beides sind nur wilde Pferde. Die ICH reiten kann."
Ein wildes Pferd zu zähmen braucht die Bereitschaft, sich einmal draufzusetzen. Das ist riskant, keine Frage, denn wir werden uns immer zu unvorbereitet fühlen, um durch das wilde, reinigende Feuer eines Entzugs zu gehen. Wenn wir es doch tun, dann von Atemzug zu Atemzug. Ohne Eile durchqueren wir die gefühlte Ewigkeit.
Die Unendlichkeit von "FÜR IMMER" stellte mich vor die Wahl: wollte ich mein Leben in schrecklichen Vorstellungen verbringen? Oder es von Augenblick zu Augenblick bestreiten?
4) Was Du brauchst ist nicht viel Gutes, sondern eine neue Art von Böse.
Dieses Filmzitat stammt aus der Anfangssequenz von "Riddick". Riddick ist ein interessanter Charakter. Kein bisschen gut, aber auch nicht wirklich böse, kann er als Einziger in der Dunkelheit sehen. Er ist diese "andere Art von Böse" - gesetzlos, un-moralisch aber doch ehrhaft. Eines ist er bestimmt nicht: lieb. Oder käuflich.
Sucht ist in den Augen mancher "nur" eine fehlgeleitete, ungeliebte und traumatisierte Energie.
Oh, bitte!
Ich stimme zu: Liebe heilt alle Wunden. Aber in diesem Fall braucht es "harte Liebe".
Sucht ist ein archetypisches Muster, dass das Schlechteste aus uns herausholt. Lügen. Herumtricksen. Verstellen. Verharmlosen. Und alles unter dem Deckmantel, dass wir es verdient hätten. Dass wir uns auf dem Gebiet unserer Sucht schonen müssen, während unsere Selbstachtung gegen 0 sinkt.
Dieser Archetyp zeigt uns, was wir imstande sind uns vorzulügen, um uns weniger schäbig zu fühlen.
Was ködert uns? Wie verharmlosen wir unsere Entscheidungen?
Ich musste erst lernen zu unterscheiden, wem ich mit übermäßiger Freundlichkeit gerade einen Gefallen tat: mir oder einer Sucht? Wen wollte ich schonen?
Sucht ist eine Bühne für unsere dunkelsten Gestalten. Und natürlich kommen sie erstmal vernünftig daher.
Ach, dieses eine Glas nur, dieser eine Einkauf, diese eine Chipspackung…
Was kann schon so schlimm daran sein?
Der Tag war hart.
Die Kollegen waren gemein.
Wenn ich besser aufgewachsen wäre, wäre ich stark genug.
Ich habe ja sonst keine Freude.
ICH HABE ES VERDIENT.
Ich kenne alle diese Ausreden. Ich habe sie vor mir und anderen verwendet. Am Hilfreichsten war mir der Tag, an dem ich mich endlich zur Rechenschaft zog für ein Verhalten, das meinen persönlichen Prinzipien der Aufrichtigkeit völlig widersprach. Das hatte nichts mit Selbstgeißelung zu tun, sondern mit dem Bedürfnis, mir wieder in die Augen sehen zu können. Ich wollte zumindest so aufrichtig sein, mir einzugestehen, warum ich tat was ich tat.
Seien wir nicht lieb zur Sucht selbst. Sie ernährt sich davon, dass wir uns schonen und belohnen. Sucht kann Menschen glauben lassen, dass sie es verdient hätten, sich selbst weh zu tun.
Es ist eine spezielle Art von Schatten, der uns in Ketten legt und dann glauben lässt, wir bräuchtest keine Hilfe.
Es braucht eine spezielle Art von Dunkelheit, um diese Dunkelheit zu betreten.
Es braucht kein "Lieb". Es braucht kein "Nett".
Es braucht Krallen, Instinkt, "Eier".
Es braucht Hilfe.
Es braucht Selbstrespekt.
Wie willst Du Dich selbst sehen?
Wenn dieser Archetyp gereift ist, wird er zur Verkörperung von Rückgrat, Selbstrespekt und Verlässlichkeit.
5) Fürchte Dich nicht, willenlos zu sein.
Wir sind klein. Und wir sind schwach.
Unser Wille ist nichts gegen die Macht der Elemente und DOCH … ist unser Wille eine elementare Kraft. Wir entdecken unseren wahren Willen, wenn wir die Beschränktheit unseres Wollens erkannt haben. Dauerhafte Macht erreichen wir nur durch das Tor vollkommener Machtlosigkeit.
Wie eine Freundin zu mir sagte: "Wenn Du Angst vor den Wehen hast, wirst Du nie etwas Schönes gebären können."
Wir werden alle initiiert in die Bedeutung des Willens. Wir schulen unseren Willen in Phasen der scheinbaren Willenlosigkeit, der scheinbaren Ohnmacht.
Und das ist auch das Hoffnungsvolle an der Botschaft dieses Archetypen:
"Du kannst nicht verschollen gehen, solange Du einen Fuß vor den andern setzt."
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