"Hier ist kein Platz mehr für mich. Nichts mehr zu holen und nichts mehr zu geben, nichts mehr zu tun, zu sagen oder zu lernen. Ich muss weiterziehen - auch wenn ich es nicht will."
Diese Erfahrung ist so archetypisch und universell, dass sie eine eigene Tarot-Karte erhalten hat.
Vom Rudel verstoßen zu werden, oder es auf eigene Faust verlassen zu müssen, weil es nicht mehr nährt: Was sich meist scheußlich anfühlt, ist tatsächlich der Beginn des menschlichen Abenteuers.
Vor einiger Zeit sprach ich mit einem Freund über seine Furcht, seine Arbeit zu wechseln. Das Gespräch driftete ab: in die Kindheit, zu den verängstigten, verständnislosen, sicherheitsbedachten Eltern, den schlechten Lehrern, den eingefahrenen Karrierebahnen der Herkunftsfamilie.
Da begannen meine Finger zu jucken. Ich wurde ungeduldig. Was ich meinen Freund hören sagte:
"Hätte mich mein Rudel mehr verstanden, mir bessere Perspektiven geboten, mehr Mut gehabt ... dann, ja dann, hätte ich heute das nötige Rüstzeug, um mich diesem Einschnitt zu
stellen."
Was machte mich so ungeduldig? (Abgesehen davon, dass ich mich in meinem Freund wiedererkannte?...) Ist unserer Kultur mit ihrem Streben nach Verständnis die positive Bedeutung des
Außenseitertums abhanden gekommen?
Zustimmung. Ablehnung. Kommunikation.
Um unserer Herkunftsfamilie zu entwachsen, müssen wir sie verstehen. Das selbe gilt, wenn wir sie bereichern wollen.
Dr. Mario Martinez, klinischer Neuropsychologe aus den USA, beschäftigt sich seit zwei Jahrzehnten mit dem Einfluss kultureller Überzeugungen auf unsere Gesundheit und Lebenserwartung. Er beschreibt "Kultur" folgendermaßen:
3 Merkmale einer Kultur
Zustimmung (Acceptance: wer oder was dazugehört
Ablehnung (Rejection): wer oder was nicht hineindarf
Kommunikation (Communication): wie Austausch stattfindet
Martinez erläutert, dass es egal ist, ob wir Zellen- oder Familienstrukturen betrachten. Wir finden immer einen Code von Zustimmung und Ablehnung, sowie eine bestimmte Kommunikationsstruktur. Ein Interview mit Martinez half mir zu verstehen, warum wir von unserem Rudel verstoßen werden müssen, um eine Chance zu haben, zu reifen Persönlichkeiten zu wachsen.
"Meine Familie hat mich nie verstanden."
Was, wenn es genau so sein sollte?
Eine "Kultur" ist ein Gefüge, dessen Zusammenhalt durch den gemeinsamen Nenner seiner Individuen gelingt. Je komplexer das Gefüge, desto mehr solcher gemeinsamer Nenner gibt es: wer reindarf, wer draußenbleiben muss und wie gesprochen wird.
Es ist natürlich, dass in einem derartigen Gefüge - wie zum Beispiel einer Familie oder einer wissenschaftlichen Forschungsgruppe - jedes Individuum auf irgendeinem Sektor außen vor bleibt. Etwa durch seine persönlichen Vorlieben oder Ansichten, die innerhalb der Kultur auf Ablehnung oder Unverständnis stoßen.
Was also, wenn wir Umstände, die uns aus unserem Rudel verstoßen, willkommen heißen würden? Das, was uns für unser Rudel inakzeptabel macht, kann in Wirklichkeit seiner Bereicherung dienen. Aber erst, wenn wir uns über die Begrenzung des Rudels hinausbewegt haben.
Jenseits unserer Kultur
Unsere speziellen Vorlieben und Interessen durchbrechen mitunter die Zäune unserer individuellen Kultur. Wir fühlen uns von etwas angezogen, das unser Rudel ablehnt. Oder wir lehnen ab, was von unserem Rudel akzeptiert wird. Was uns der Archetyp des Aufbruchs lehrt, ist die Notwendigkeit, die Suche nach Verständnis und Zustimmung innerhalb des bekannten Umfelds aufzugeben und es tatsächlich zu verlassen.
Das heißt nicht, dass wir unverstanden bleiben müssen. Doch unser Rudel ist nicht dazu gemacht, uns restlos zu verstehen.
Keine Kultur der Welt kann so aufgebaut werden, dass sich jeder Mensch darin vollkommen aufgehoben fühlt.
DAS WÄRE DAS ENDE MENSCHLICHER ENTWICKLUNG.
Wenn wir über die Maßen Verständnis fordern, wo es keines gibt,
wenn wir Zugehörigkeit suchen, wo sie uns verwehrt wird, vergessen wir,
dass es den grundlegenden Impuls zu achten gilt, der aus unserem Inneren kommt:
unsere EIGENEN Fragen zu stellen,
unsere EIGENEN Wege zu bestreiten,
unsere EIGENEN Antworten zu finden.
Erst DANN, wenn wir gereift und vom Leben unterrichtet zurückkehren, können wir unserem ehemaligen Stamm das Geschenk neuen Wissens machen. Damit wir unseren Weg beginnen können, ist es notwendig, uns in unserem Rudel - der Familie, dem Arbeitsumfeld, dem Freundeskreis - nicht länger heimisch zu fühlen.
Nesthocker, die denken, sie flögen
Das Herausfallen aus dem Stamm ist selten angenehm. Aber es signalisiert die Bereitschaft und Reife, eigene Wege zu bestreiten. Zwei Fallen gibt es:
Die erste Falle: Anhaltende Suche nach Verbündeten.
Verständlich ist es schon, erst mal zu fragen, ob von irgendeiner Seite Verständnis oder Unterstützung zu erwarten sind. Wenn allerdings keine echte Zugehörigkeit zu finden ist, kristallisiert sich allmählich heraus, dass es entweder das bekannte Zuhause zu verlassen, oder sich selbst zu verbiegen gilt.
Die zweite Falle: Vorgetäuschter Aufbruch.
Nach langem Verbiegen wird das Aufbrechen zu einer Art passiv-aggressivem Protest. Verbitterung: "Na, es war ja kein Verständnis zu erwarten. Jetzt mache ich mich unabhängig, breche den Kontakt ab - sie werden schon sehen, was sie davon haben." Im Grunde ist auch das ein Nesthocker-Syndrom. Die Hoffnung, doch noch anerkannt und vom reumütigen Stamm wieder aufgenommen zu werden, bleibt bestehen. Und sie lähmt.
Kontemplation
Hier sind einige Fragen, wenn dich das Thema anspricht.
Nimm ein paar Augenblicke, um ruhig zu werden. Stelle dir die Fragen langsam, Stück für Stück.
Verweile in der Frage; lass sie in deinem Inneren verhallen. Du musst nicht sofort eine Antwort parat haben.
Lass dein Inneres in seiner eigenen Geschwindigkeit antworten, vielleicht in Bildern, Erinnerungen, Klängen - fast wie in einer Traumsequenz.
Halte deine Antworten fest.
- Wo betrete ich derzeit Neuland?
- Gibt es Neues, das in mein Leben getreten ist und von dem ich weiß, dass es in meinem Umfeld (Familie, Beziehung, Freundeskreis, Beruf) auf Ablehnung stoßen würde?
- Was genau würde mir vorgeworfen werden, wenn ich dieser neuen Entwicklung nachgeben würde? Was befürchte ich? Wo befürchte ich, alleine und ohne Unterstützung zu sein?
- Wie versuche ich, von meinem Umfeld grünes Licht für meine Unternehmungen zu erhalten? Auf welche Weise suche ich nach Verständnis und Unterstützung?
- Welche Eigenschaften, welche Qualitäten ziehen mich im Neuland an?
- Welche Menschen fallen mir ein, die im Neuland heimisch sind? Oder, anders formuliert: wer wartet da draußen auf mich? Habe ich Bekanntschaften gemacht, die mich zu neuen Erfahrungen inspirieren?
- Was sagt mein Rudel dazu? Was ist seine Meinung?
- Welche Menschen in meinem Rudel haben die lauteste Stimme?
- Welche Werte herrschen im Neuland vor?
- Welche Werte herrschen in meinem Rudel vor?
Auf den ersten Blick mag es sein, dass du unvereinbare Gegensätze vor dir hast.
Deine Aufgabe ist es, deine eigenen Grenzen zu erweitern. Deine Aufgabe ist es, durch deinen Lebensweg eine Verbindung zwischen den Gegensätzen zu schaffen.
DU bist diese Verbindung.
Ab in die Wildnis
Mache dich auf, dein Rudel zu verlassen.
Du gehst nicht alleine - du nimmst die speziellen Qualitäten deines Herkunftsumfeldes mit.
Was könntest du brauchen?
Vielleicht ist es Vorsicht oder Bodenständigkeit, eine praktische Veranlagung oder Zusammengehörigkeit.
Gehe in deiner Vorstellung an die Grenzen des Bekannten. Bündle dich und tritt hinaus. Du bist in der Wildnis.
Überlasse dich an diesem Punkt ganz deiner Vorstellungskraft - wie geht die Geschichte weiter?
Wenn du möchtest, kannst du regelmäßig an diesen Ort der Wildnis zurückkehren. Dein Inneres wird deine äußere Situation in Bilder übertragen, die dir Kraft und Orientierung geben können.
Bewusstes Tagträumen ist in eine Möglichkeit, dich selbst zu unterrichten und neue Erkenntnisse zu gewinnen.
Vielleicht begegnest du Helfern in der Wildnis. Oder du stellst fest, dass du ein neues Zuhause findest oder neue Fähigkeiten entwickelst. Lass dich überraschen.
Achte auch auf Einfälle, Träume, Bücher, Gespräche, die dir zufallen. Sie alle sind Erinnerungen an deine archetypische innere Entwicklung.
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Christine (Donnerstag, 21 Februar 2013 14:57)
"Der Pfad des friedvollen Kriegers" (Dan Millmann) oder "Handbuch des Kriegers des Lichts" (Paolo Coelho) fallen mir dazu ein. Eine wundervolle und ermutigende Bechreibung eines Weges, den Pioniere, ehrlich Suchende und Evolutionaries (im Sinne von Andrew Cohen) gehen. Danke dir, mutige Kriegerin und Göttin des Lichts, des Mutes und der Kraft! Christine
Susanna (Dienstag, 26 Februar 2013 14:53)
Liebe Christine, danke Dir!
Die Bücher stehen bereits auf meiner Leseliste - ich freu mich drauf.