Zuviel Wissen kann uns davon abhalten, authentische Erfahrungen zu machen und uns zu erneuern. Wer zuviel Wissen angesammelt hat, tut sich schwer, unvoreingenommen, leer und lebendig im Augenblick zu ruhen. Kurz gesagt: er verpasst sein Yoga und sein selbst.
Patañjali zählt das Wissen sogar zu den fünf „Trübungen“ des Geistes. Die anderen sind Irrglaube, Fantasievorstellungen, Erinnerungen und Schlaf.
Hier ist eine Praxis, um vom Wissen zur Weisheit, vom gelangweilten Geist zum Großen Staunen zurückzufinden.
Keine Ahnung
Was ist die schlimmste Antwort in einer Prüfung?
Was wäre die schlechteste Antwort vor dem Traualtar?
Oder die verheerendste Ansage eines Politikers?
„Ich weiß es nicht.“
Nicht genügend, und auf Wiedersehen!
Nicht-Wissen ist – in unserer Kultur – gleichbedeutend mit Ohnmacht.
Wie sehr das „Nicht-Wissen“ uns erschüttert, ist vom Menschentyp abhängig. Für einige reicht es aus, um das Lernen für immer an den Nagel zu hängen oder den Traumberuf sausen zu lassen.
Warum uns Wissen lähmen kann
Es liegt in der Natur des Wissens, sich ständig zu verändern. Das ist gut so. Wissen an sich ist eine tolle Sache. Ich bin bekennender Fachtrottel. Und wohne praktisch in Büchern.
Was ist Wissen? Patañjali schlägt uns folgende Arten vor:
Einmal das „äußere“, überlieferte Wissen der Bücher, Lehrer, Eltern, Freunde usw. Wir sammeln es weil wir müssen, zum Spaß oder weil wir hoffen, darin DIE rettende Antwort zu finden.
Als zweites das innere Wissen, das wir durch Erfahrung gewinnen und drittens das innere Wissen durch die Sinne: was wir sehen, hören, schmecken, usw.
Äußeres Wissen ist die BRAVO, inneres Wissen der erste Kuss und alles danach.
Äußeres Wissen ist die Kochsendung und inneres Wissen der erste, vielleicht verbrannte, Kuchen.
Problematisch ist, dass wir an Wissen auch Meinungen knüpfen: z.B. die Meinung über die besten Kuchenrezepte, Investmentpläne, Lebensentwürfe und (tada!) Wege zum ultimativen Orgasmus.
Noch kritischer wird es mit dem, was wir über uns zu wissen glauben: „Ich weiß, was ich kann und was nicht.“
Ist eine Erfahrung mit einer sehr rigiden Meinung verknüpft, können wir darin festfrieren. Zu viel Wissen, egal ob äußeres oder inneres, kann zum Hemmschuh werden. Wir funktionieren innerhalb der
Parameter, aber wir erleben kaum noch. Zum Beispiel, weil wir zu viel Angst haben, etwas falsch zu machen, wenn wir uns vom gängigen Wissen (und den dazugehörigen Meinungen) entfernten. Wer schon
weiß, staunt nicht mehr. Lebendigkeit hingegen ist Staunen, Entdecken, Fragen.
Forscher, Pioniere, entdecken neue Wege, weil sie davon ausgehen, nicht zu wissen.
Mit einer leisen Ahnung begeben sie sich ins Unbekannte, selbst auf die Gefahr hin, mit leeren Händen zurückzukehren. Der Satz: „Ich weiß es nicht“ öffnet einen Raum voller Möglichkeiten. Nicht
zu wissen, lässt uns aufhorchen. Vielleicht in peinlicher Stille, Ratlosigkeit oder Ruhe. Unser menschliches „Ich“ ist damit völlig überfordert: es findet kein Ja, kein Nein, nichts zum
Festhalten.
Nicht-Wissen: Tor zu uns selbst
Immer wieder erleben wir Phasen, in denen wir weder wissen wie es weitergeht, noch wer wir sind, was wir wollen und was das überhaupt soll. Viele stellen fest, dass sie solche Lebensabschnitte wie im Autopiloten bewältigt haben. An der Oberfläche tobte das Chaos, aber im Verborgenen liefen sie wie auf Schienen in ein neues Leben.
Warum?
Eine Erklärung ist, dass Nicht-Wissen alle Sinne aktiviert. Es ist ein Überlebensinstinkt, im Chaos alle Fühler auszustrecken. Und wenn alle Kanäle offen sind, empfangen wir mehr Informationen. Und: wir trauen uns, auf die Information zu reagieren. Wenn wir erst mal alles verloren haben, gibt’s nichts mehr zu verlieren.
Für unseren menschlichen Aspekt ist das Nicht-Wissen verständlicherweise die reinste Tortur – für unseren spirituellen Aspekt ist es der Anfang eines großartigen Abenteuers. Es beginnt mit der
Leere.
Sämtliche Weisheits-Traditionen der Welt, die mir bekannt sind, helfen Menschen zuallererst, sich mit der scheinbaren Leere anzufreunden. Dabei geht es ums Aufweichen von rigiden Konzepten,
Vorstellungen, Meinungen (z.B.: das kann ich, das weiß ich, das will ich, so ist die Welt).
Weisheit, die BLüte des Nicht-Wissens
Ich habe eine erstaunliche Beobachtung gemacht: je mehr ich verliere, desto deutlicher sehe ich, was immer bei mir bleibt. Diese Erkenntnis nenne ich Weisheit und sie hat nichts mit
Wissens-Bildung zu tun. Sie gehört zur Essenz eines Menschen. Im Gegensatz zum Wissen bleibt sie lebenslang gültig, wird nicht vergessen und kann höchstens verschüttet werden.
„Ich weiß: das Leben ist kostbar.“
„Ich weiß: Dankbarkeit ist der Schlüssel zur Erfüllung.“
„Ich weiß: ich bin geliebt.“
Es geht um leise Empfindungen der Weisheit, die wir oft in den schwierigsten Umständen in uns aufsteigen fühlen. Sie können nicht „bewiesen“ werden. Der einzige Beweis für Weisheit ist, dass ein
Mensch, der in ihr ruht, inmitten der Unsicherheiten eine große beruhigende Kraft in sich spürt, die seine Ängste lindert und ihn sanft anstupst.
Denn Weisheit ist im Gegensatz zu Wissen schwer belegbar, sie ist unlogisch. Man kann keine Diskussionen mit ihr anzetteln und sie eignet sich für keinen Krieg. Man kann sich nicht erklären,
warum sie auf einmal wichtiger ist als der sichere Job, die sichere Ehe.
Für Wissen hingegen lässt sich immer eine Quelle zitieren:
„Woher weißt Du, dass das so ist?“ – „Stand in der Zeitung.“
„Woher willst Du wissen, dass du das nicht kannst?“ – „Haben meine Eltern immer gesagt.“
Doch wie sollen wir unsere leise Gewissheit beweisen? Die Logik spricht dagegen. Dann beweisen wir sie eben nicht. Unsere Empfindung ist dazu da, uns Kraft zu geben, während wir anpacken und das Gute in die Wege leiten. Auch das: ist Weisheit.
Praxis
Die Praxis im Oktober ist schlicht und tiefgreifend:
Lass jeden Tag eine neue Idee zu dir kommen.
Du erwachst morgens als ein Mensch und wirst als anderer einschlafen. Du hast tausend Eindrücke und Begegnungen vor Dir. Spüre, wie diese Leere auf Dich wartet. Gib dem Leben eine Chance, zu Dir durchzudringen und Dich mit einer neuen Sicht zu beleben und aufzubauen. Vielleicht durch Gespräche, Bücher, plötzliche Gedanken.
„Oh Mann, das wird ein beschissener Tag, das merk ich schon.“ Eine berechtigte Aussage, wenn Du gerädert und mies gelaunt zur Arbeit düst. Es wird nicht besser, wenn Du versuchst, auf rationalem Wege einzulenken und der Sache etwas Gutes abzugewinnen. Neues zuzulassen bedeutet nicht, Dich zum positiven Denken zu zwingen. Die Frage lautet: "Wie will ich mein Leben und meine Handlungen heute in Erinnerung behalten?" Auch ein zorniger Tag ist kostbar.
Das Neue soll Dir helfen, etwas Schweres loszulassen. Du versuchst nicht, noch mehr Information aufzunehmen. Du entdeckst plötzlich banale Dinge, die Dich erfreuen. Wenn Du sehen WILLST, wirst du sehen.
Kontempliere abends die Frage: „Was habe ich heute Neues über mich erfahren?“ … Freut es Dich? Macht es Angst? Beides? Halte auf Deine Weise fest, welche Möglichkeiten sich Dir zeigen, was Du entdeckt hast über das Leben und Dein Dasein.
Ich wünsche Dir ein prall gefülltes Logbuch der Weisheit und viel Freude beim Spiel in der Leere.
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Claudia Heinrich (Dienstag, 02 April 2013 10:48)
Eine wirklich schöne Anregung, auf Basis einer offenen und aufregenden Haltung des Nicht-Wissens. Herzlichen Dank dafür
Susanna (Mittwoch, 03 April 2013 12:32)
Ich sage auch Danke, fürs Lesen und Wirkenlassen!